Kunstraum Kreuzberg

Aus der Krankheit eine Waffe machen

Künstlerische Perspektiven als Teil gesundheitspolitischer Bewegungen

Eröffnung:
Freitag, 31.05.2024 um 17 Uhr

Laufzeit:
01.06. – 18.08.2024

MIT:
Anguezomo Mba Bikoro
The Chronic Iconic (Jessica Cummin)
Chloe Pascal Crawford
Criptonite (Edwin Ramirez & Nina Mühlemann)
Miriam Döring
Tomás Espinosa
Eva Egermann & Cordula Thym
Lotti Fellner-Wyler
Feministische Gesundheitsrecherchegruppe
Cornelia Herfurtner
Kallia Kefala
Magda Korsinsky
Julia Lübbecke
MELT (Ren Loren Britton & Iz Paehr)
Silvi Naçi
Sophie Utikal
RA Walden

Kuratiert von
Linnéa Meiners

Kuratorische Assistenz
Gianna Ehrke

Beratung zu barrierefreier Ausstellungsgestaltung
Berlinklusion – Netzwerk für Zugänglichkeit in Kunst und Kultur
Jovana Komnenic & Kirstin Broussard

Grafikdesign
kadi | studiokwi

Übersetzung Leichte Sprache
Helen-Sophie Mayr

Übersetzung Englisch
Sonja Hornung

Leitung des Kunstraum Kreuzberg/Bethanien
Stéphane Bauer

Programmkoordination
Sofía Pfister

Produktionsleitung
Kristoffer Holmelund

Projektmitarbeit
Melina Gentner
Dani Hasrouni
Johanna Janßen
Marlene Risse

Als Reaktion auf diskriminierende Strukturen des Gesundheitssystems wollte das Sozialistische Patient*innenkollektiv1 im Jahr 1972 die Krankheit zur Waffe machen. Der Gruppe ging es darum, Krankheit nicht als etwas Individuelles, allein zu Bewältigendes darzustellen, sondern den komplexen Zusammenhang mit gesellschaftlichen Missständen und strukturellen Ungleichheiten aufzuzeigen. In Bezug darauf wird in dieser Ausstellung die strukturelle und intersektional wirkende Benachteiligung behinderter, chronisch kranker und/oder neurodivergenter Menschen in Beziehung zum spätkapitalistischen und ableistischen System sichtbar gemacht. Wie kann aus der Krankheit eine Waffe gemacht werden?

Die Gruppenausstellung Aus der Krankheit eine Waffe machen – Künstlerische Perspektiven als Teil gesundheitspolitischer Bewegungen2 setzt als Impuls die gesundheitspolitischen Kämpfe um das ehemalige Diakonissen-Krankenhaus Bethanien im Berlin der 1970er Jahre. Als für das leerstehende Gebäude die Einrichtung eines Künstler*innenquartiers geplant wurde, forderte unter anderem das Kampfkomitee Bethanien, die Räumlichkeiten für eine Kinderpoliklinik zu nutzen. 

17 künstlerische Positionen werden in den Kontext des ortsspezifischen politischen Geschehens im Kampf um das Bethanien gesetzt. Die Künstler*innen üben Kritik an den gegenwärtigen Verhältnissen in Kunst- und Gesundheitspolitik und zeigen Alternativen auf. 


Denn die Zeit ist hier und die Zukunft Crip.3


Die anti-ableistischen Konstellationen von MELT (Ren Loren Britton & Iz Paehr) verflechten visuell vergangene Widerstandsbewegungen behinderter Aktivist*innen in Deutschland mit astronomischen Sternbildern als Marker für zeitliche und räumliche Dimensionen. The Chronic Iconic (Jessica Cummin) ist eine Mad Cripfluencerin, die ihre Aufklärungsarbeit in kämpferische Banner übersetzt. Tomás Espinosas übergroße Pillen thematisieren sowohl die Stigmatisierung und Behandlung von HIV-positiven Personen als auch den erschwerten Zugang zu Medikation. Criptonite (Edwin Ramirez und Nina Mühlemann) schreiben Briefe an einen Kraken und erzählen von crip magic, Solidarität und Meerhexen mit kurzer Lebenserwartung. Julia Lübbecke erweitert ihre subjektive Recherche zu feministischer Selbsthilfe durch die Frage nach dem Zusammenhang von politischer und körperlicher Haltung in Bezug auf die heute noch fortwirkenden gewaltvollen Körperideale des Nationalsozialismus. Die Malereien von Lotti Fellner-Wyler spiegeln ihr Leben und ihren künstlerischen Umgang mit mehreren Klinikaufenthalten wider. Silvi Naçi macht den Schmerz sichtbar, der die Produktion der eigenen Kunst begleitet. Die Ermüdung durch die Anforderungen einer leistungsgetriebenen Gesellschaft erschließt Kallia Kefala durch ihre Installation. Chronische Krankheit versteht RA Walden als politisches Thema, das aus der Isolation in den öffentlichen Raum gebracht werden muss. Die Feministische Gesundheitsrecherchegruppe erforscht seit Langem frühere sowie aktuelle feministische und gesundheitspolitische Bewegungen mit Verbindungen zu Radikaler Therapie, Antipsychiatrie und queerer Selbstsorge und bereitet die Materialien künstlerisch auf. Nähe, Verbundenheit und ein eigener Zugang zu Heilung werden in Sophie Utikals textiler begehbarer Installation erfahrbar. Anguezomo Mba Bikoro reflektiert kritisch über koloniale somatische Körpertheorie und praktiziert Rituale von restorative justice, um Schwarzen Frauen, die aufgrund häuslicher Gewalt chronisch erkrankt sind, einen sicheren Zugang zu diskriminierungssensibler Medizin und psychologischer Unterstützung zu bieten. Die Ambiguität und Intimität von Hitze als therapeutisches Mittel als auch als verletzendes Element zeigt Miriam Döring auf, indem sie historisch geprägte Vorstellungen von Wärme dem eigenen Körperwissen gegenüberstellt. Einen Einblick zur Verknüpfung von Älterwerden, Behinderung und Sexualität ermöglicht Magda Korsinsky. Eva Egermann & Cordula Thyms crip-queer-feministische Videoarbeit lädt in eine punkige Welt von Zugänglichkeiten ein.

Die Kämpfe um das Bethanien, Ideen des Sozialistischen Patient*innenkollektivs und die Umkehr der Krankheit zur Waffe werden durch Archivmaterialien und das Begleitprogramm in einen Zusammenhang gesetzt. Cornelia Herfurtner nähert sich passiver Bewaffnung als widerständige Praxis des Selbstschutzes bei Protesten im öffentlichen Raum und fragt, was wir brauchen, um uns zu stärken. Chloe Pascal Crawford untersucht den Zusammenhang von Waffen und Behinderung und macht auf gewaltvolle Regularien im Berliner Alltag aufmerksam.

Die Ausstellung und das Begleitprogramm widmen sich dem politischen Kampf, nachhaltig wirkender Kunst und anti-ableistischen Visionen – sowohl historisch als auch aktuell und in die Zukunft denkend.

Menschen, die sich selbst als behindert, chronisch krank und/oder neurodivergent identifizieren, sind mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Sichtbarkeiten, daraus folgenden Konsequenzen und Wahrnehmungen konfrontiert. Die Selbstbeschreibungen werden in diesem Projekt nicht als Synonyme für einander betrachtet, sondern als sich immer wieder intersektional überschneidende Selbstidentifikationen verstanden - nicht um Differenzierung auszuschließen, sondern um gemeinsame Kämpfe zu ermöglichen


  • 1 Zur zeitgemäßen Angleichung entgendert
  • 2 Titel in Anlehnung an SPK – Aus der Krankheit eine Waffe machen – Eine Agitationsschrift des Sozialistischen Patient*innenkollektiv an der Universität Heidelberg
  • 3 Eva Egermann im Editorial des Crip Magazine #2, Wien 2017
  • Das Projekt wird gefördert aus Mitteln der Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt: der IMPACT-Förderung, dem Fonds für Kommunale Galerien (KOGA) und dem Fonds für Ausstellungsvergütungen Bildender Künstler*innen (FABIK)
Plakat: CC BY-NC-SA FHXB Friedrichshain-Kreuzberg Museum